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Ostern fällt nicht aus!

Gedanken von Pastor Julian Bergau

An(ge)dacht – in den Tagen der Passions- und Corona-Zeit

Irgendwo im Regal steckt es bestimmt noch – dieses Kinderbuch, das immer zu meinen liebsten gehörte: Die Geschichte von Frederick, der kleinen Feldmaus. Mit seiner Familie lebt Frederick zwischen den Steinen der Mauer an der Wiese. Die Mäuse bereiten sich auf den Winter vor. Da gibt es allerhand zu tun: Schließlich müssen die Vorräte für die kalten Wochen rechtzeitig unter Dach und Fach gebracht werden. Alle sind schwer beschäftigt, alle packen mit an. Bis auf einen: Frederick scheint nicht so ganz bei der Sache zu sein. Denn während die anderen Mäuse fleißig Körner, Nüsse und anderes heranschaffen, sieht man Frederick nur abseits dasitzen, abgewandt, in sich gekehrt; manchmal fallen ihm sogar die Augen fast zu.

„Frederick, warum arbeitest du nicht? Träumst du?“, das fragen die anderen Mäuse dann natürlich (und es braucht nicht viel, um sich den vorwurfsvollen Ton vorzustellen). Doch Frederick hat eine Antwort: Er sitzt nämlich nur scheinbar tatenlos daneben. In Wirklichkeit sammelt auch er Vorräte – nur eben ganz andere. Solche nämlich, an die sonst keiner denkt: Sonnenstrahlen. Farben. Wörter. Auch das, so meint Frederick, wird es brauchen.

Und tatsächlich: Als der Winter dann heraufgezogen ist, sein eisiger Griff immer länger währt und Nüsse und Beeren zur Neige gehen, da erinnern sich die Mäuse an Fredericks Vorräte – und Fredericks große Stunde schlägt: Da holt er die Sonnenstrahlen heraus, die Farben, und zwischen den rauen Steinen wird es warm und bunt. Da holt er die Worte heraus, und daraus werden wunderbare Gedichte, die das Mäuseversteck füllen. Und die ganz schlichten und zugleich ganz großartigen Bilder von Leo Lionni sind so einprägsam, dass auch ich beim Betrachten immer wieder ins Staunen komme und alles ganz hautnah fühle: die Farben und den goldenen Glanz der Sonnenstrahlen, während es rundherum nur arg und kalt ist.

Nein, im Moment ist es nicht der Winter, der heraufgezogen ist. Im Gegenteil, der Frühling bricht sich allmählich Bahn, mit Sonnenstrahlen, die schon richtig Kraft haben, und blauem Himmel, bei klarer Luft, die schon ein bisschen würzig ist vom Duft der Blüten. Und doch ist da in diesen Tagen auch hier bei uns ein eiserner Griff, dem man sich nicht entziehen kann: Das Corona-Virus hat so ziemlich alles umgekrempelt, fast vom einen Tag auf den anderen. Nein, es ist nicht Winter, und doch fühlt sich das Leben jetzt an vielen Stellen wie schockgefroren an. Und tatsächlich, viele sind zuletzt in die Geschäfte gestürmt, um Vorräte anzulegen („hamstern“ sag ich jetzt mal nicht, wir sind ja bei Mäusen …).

Dennoch ist unsere Situation ganz anders als die von Frederick und seiner Familie: Denn die Mäuse haben ihre Instinkte und Routinen. Sie wissen, was zu tun ist, wenn der Winter naht (auch wenn sie ihren Frederick erst noch zu schätzen lernen müssen). Uns aber fehlt solches Erfahrungswissen gerade. Was uns da geschieht im Strudel der Pandemie, das ist außergewöhnlich und war wohl für die meisten kaum vorstellbar gewesen. Überall ist die Unsicherheit zu spüren, wie das Leben in diesem Ausnahmezustand funktioniert, wie es weitergehen mag; der Live-Ticker reißt nicht ab, Zahlen und Prognosen werden ständig aktualisiert. Und während die Mäuse sich alle zusammen aneinander kuscheln können, um gemeinsam auf bessere Zeiten zu hoffen, ist uns gerade das nicht möglich, zumindest nicht in den gewohnten Formen: Wer für die anderen Sorge tragen will, der hat Abstand zu halten.

Diese Tage und Wochen gehen an die Substanz. Es ist ein schmaler Grat zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Zwischen Zusammensein auf engem Raum und einander-keinen-Raum-mehr-geben-Können. Zwischen Durchatmen, weil das Hamsterrad (nun also doch …) des Lebens mal angehalten ist, und brennender Sorge, weil der eigene Lebensunterhalt plötzlich akut gefährdet ist.

„Frederick, was ist mit deinen Vorräten?“ Vielleicht fragen auch wir nach den Sonnenstrahlen und Farben, und vielleicht gelingt es auch uns, ins Erzählen zu kommen, Geschichten zu finden. Womöglich suchen wir längst vergessene Adressen heraus, hören Stimmen am Telefon, und sofort kehren ganze Welten wieder. Holen ein Musikinstrument wieder hervor und wissen vielleicht sogar noch, wie man es stimmt.

Solche Sonnenstrahlen und Farben, die wir in unserem Leben getankt haben und die uns jetzt wärmen können, die sind jetzt wichtig. Nicht weniger wichtig sind aber auch die Sonnenstrahlen und Farben von morgen, die wir uns ausmalen. Wo wir uns vorstellen, wie es weitergeht, wenn der eiserne Griff sich lockert. Wo wir uns vorstellen, was sein wird und was werden soll, was dann wichtig sein soll, was vielleicht auch anders sein soll als vorher. Fredericks Vorräte haben nicht nur mit der Erinnerung an gestern zu tun, sondern auch mit dem Gedanken an morgen.

In einem Interview wurde Ralf Meister, Landesbischof unserer Landeskirche Hannovers, kürzlich gefragt, was denn nun sei, ob auch Ostern jetzt ausfalle wegen Corona, so wie Fußball-EM und Olympische Spiele. Die Antwort, mit der er zitiert wurde, fand ich gut: Ostern falle nicht aus. Könne auch gar nicht ausfallen. Denn die Auferstehung Christi, das sei ein Termin für alle Ewigkeit.

Für alle Ewigkeit – für gestern, heute und morgen. Heute sind wir mitten in der Passionszeit. Die hat ohnehin viel mit dem „Radikalen“ zu tun, mit der Besinnung auf die Wurzeln, auf das Elementarste; und die aktuellen Umstände geben dem noch einmal eine ganz eigene Dringlichkeit. Passionszeit ist Zeit zum Nachdenken über meinen Weg mit Gott – und Gottes Weg mit mir. Die Farben, mit denen uns davon erzählt wird und mit denen wir einander davon erzählen können, finden wir in den Texten der Bibel.

Jesu Weg ans Kreuz, diese Geschichte erzählt davon, wie Gott hineingeht in das Alleinsein, das Alleingelassenwerden, in die Einsamkeit: Seine Jünger, die er gebeten hatte, zu wachen und zu beten, die findet Jesus schlafend vor in Gethsemane (Markus 14,32ff.). Und am Kreuz, da wird es sein Ruf sein, der nachhallt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Markus 15,34) In Jesus ist Gott den Weg in die Einsamkeit gegangen. In die tiefste Nacht, die auch sein kann, wenn eigentlich alle Zeichen auf Frühling stehen. Da steht das Kreuz dafür, dass auch die tiefste Nacht nicht ohne Gott ist – eben weil Gott sie kennt, die Nacht, die Furcht, die Einsamkeit. Niemals alleingelassen, das ist das große Versprechen, das Gott uns schenkt durch das Kreuz hindurch.

„Ich sammle Sonnenstrahlen. Farben. Worte.“ So erklärt sich Frederick den anderen Mäusen. So viel schwingt darin mit: Denkt nicht, dass ich untätig danebensitze. All das sammle ich, damit wir einander davon erzählen können in unserem Versteck – dann, wenn es kalt ist und wir schon fast gar nicht mehr wissen, wie wir noch über die Runden kommen sollen. Dann erzähle ich euch von den Farben, den Farben für gestern, heute und morgen. Und ihr werdet sehen: der Morgen wird kommen, an dem der Stein vom Versteck weggewälzt wird. Und dann fallen die Sonnenstrahlen herein, und ihr seht das Leuchten. Stellt sie euch ruhig schon mal vor, die Farben, die dann sein werden.